Die Wunden werden nie verheilen
Juliane Kaltenegger ist seelisch krank – und sammelt Spenden für einen Assistenzhund

20.10.2023 | Stand 21.10.2023, 13:28 Uhr

Ihre Kindheit war ein einziges Trauma. Jetzt würde Juliane Kaltenegger ihren Alltag gerne mit Hilfe eines Assistenzhundes bewältigen. In einer Online-Spendenaktion sammelt sie dafür Geld. Foto: privat

„In meinem Leben musste ich leider viele Traumata erleben, die mein Leben sehr stark einschränkten“, schreibt Juliane Kaltenegger. Die 22-Jährige, die in Ingolstadt lebt, hat über die Internetplattform betterplace.me eine Online-Spendenaktion initiiert, um Geld für einen Assistenzhund zu sammeln, der ihr das Leben erleichtern könnte.



Dass die junge Frau, wie sie schreibt, an „komplexen Posttraumatischen Belastungsstörungen“ mit „dissoziativen Störungen und Depressionen“ leidet, wundert nicht, wenn man auch nur hauchzart in ihre Geschichte eintaucht.

„Die Horror-Eltern aus Ihrlerstein“

Was Juliane als kleines Kind erlebt hat, wird ihr Leben lang Spuren hinterlassen. „Die Horror-Eltern von Ihrlerstein“ titelte eine Boulevardzeitung damals in ihrem Bericht über die Gerichtsverhandlung gegen die Eltern.

Obwohl immer wieder Anzeigen gegen die Eltern eingegangen waren, dauerte es Jahre, bis die acht Kinder aus dem heruntergekommenen Haus im Landkreis Kelheim geholt wurden. Auch der Donaukurier hatte über den Fall berichtet.

„Meine Eltern haben mich jahrelang psychisch und körperlich misshandelt“, erzählt Juliane Kaltenegger heute, etwa 15 Jahre später, im Gespräch mit unserer Zeitung. Sie geht an die Öffentlichkeit, um auf ihre Spendenaktion für einen Assistenzhund aufmerksam zu machen. Bisher sind erst 500 Euro eingegangen.

Der speziell für sie ausgebildete Assistenzhund kostet aber rund 30.000 Euro. Im Internet bekommt sie oft Zuspruch, es gehen aber auch sehr negative Kommentare und „dumme Sprüche“ ein. „Du bist zu hübsch, um krank zu sein“, habe ihr einer geschrieben.

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Was genau ihre Traumata ausgelöst hat, zu erzählen, ersparen wir der schüchtern wirkenden jungen Frau. „Das können Sie alles im Internet nachlesen“, sagt die 22-Jährige. Nachdem sie und ihre Geschwister von den Eltern weg waren, lebte Juliane in einer Einrichtung für Kinder.

„Da ging’s zum Teil weiter.“ Sie war damals „das einzige Mädchen in der Gruppe mit lauter Jungs“. Wurde vergewaltigt. „Da hat sich niemand wirklich drum geschert.“

Wunden in der Seele



Die Wunden in ihrer Seele sind noch lange nicht verheilt. Jahrelang ist Juliane in psychiatrischer Behandlung. Hat zwei Klinikaufenthalte hinter sich. Sie zeigt ihren Schwerbehindertenausweis, der ihr eine 50-prozentige Behinderung bestätigt. Legt Unterlagen von Ärzten und aus Kliniken vor, um nachzuweisen, dass sie wirklich krank ist, der Grund für ihre Spendenaktion echt ist.

Seit zwei Jahren kämpft Juliane Kaltenegger wieder um einen Therapieplatz. Im Umkreis von 100 Kilometern hat sie es versucht. Vergeblich. Entweder ist man „nicht zuständig“, es gibt eine ellenlange Warteliste oder man bekommt nur einen Platz bei akuter Selbstmordgefährdung, habe man ihr gesagt.

„Ich kann ja auch nicht ständig in eine Klinik gehen.“ Über die Hochschulambulanz in Ingolstadt hat sie eventuell im November eine Chance.

Tier kann wittern, wenn sich ein Anfall anbahnt

Wie sich das, was mit dem Fachausdruck „dissoziative Störungen“ gemeint ist, bei ihr ausdrückt, erzählt sie so: „Wenn ich allein bin oder einen Termin hab, dann hab ich Todesangst, bekomme Schweißausbrüche. Ich würde am liebsten wegrennen.“

Schon Wochen vor einem Termin bekomme sie Panik. Oft fange sie an zu zittern, verkrampfe. „Dann sehe ich Dinge, die früher passiert sind.“ Manche Menschen, aber auch Gerüche oder Geräusche würden dies triggern.

„Ich verlasse ungern das Haus“, sagt Juliane. Sie sei deshalb total auf ihren Freund angewiesen, mit dem sie seit einiger Zeit zusammenlebt. Der 25-Jährige ist auch beim Pressegespräch dabei. Steht seiner Freundin zur Seite, wo immer er kann. Doch er ist eben auch nicht immer da, etwa, wenn er in der Arbeit ist. Gerade in solchen Situationen käme der Assistenzhund ins Spiel.

„Der Hund ist trainiert auf meine Bedürfnisse“, hat sie bei einem Besuch der Hundetrainerin Jutta Heibel aus Oberschneiding erfahren. Die Hunde für die Ausbildung zum Assistenzhund kommen aus deren eigener Zucht. Wenn sie draußen sei und einen Anfall bekomme, könne sie der Hund zu einem ruhigen Platz bringen.

Er könne, wie ein Epilepsie-Hund, früh wittern, wenn sich ein Anfall anbahne. „Ein ausgebildeter Assistenzhund könnte mich in meinem Leben bereichern. Ich könnte meinen Alltag mit seiner Hilfe bewältigen. Er könnte mich aus dissoziativen Zuständen holen, mich aus Albträumen wecken, mir Sicherheit geben und mich vor mir selbst schützen, wenn ich nicht mehr im hier und jetzt bin“, schreibt sie auf der Seite der Spendenaktion. Auch ihre Ärzte rieten zu einem solchen Hund. Die Kosten dafür werden von der Kasse nicht übernommen.

Wegen ihrer Krankheit hatte Juliane ihren Job als Lagerlogistikerin aufgeben müssen. Einen neuen Arbeitsplatz – etwa im Büro – zu finden, sei schwer, sagt sie.

Vielleicht klappt es ja mit dem Assistenzhund. Der würde unter dem Schreibtisch niemanden stören, wäre vermutlich schnell „der Liebling des Büros“, und für Juliane eine ganz ganz große Stütze.