Ein Leben für die Rechte der Arbeiter

Kämpferischer Betriebsratschef, Politiker auf allen Ebenen, Audianer für immer: Der Ingolstädter Ehrenbürger Fritz Böhm wäre heute 100 Jahre alt geworden

22.02.2020 | Stand 22.02.2020, 9:06 Uhr
Boehm
(1), Rˆssle, 19.06.2009 −Foto: Rössle

Kämpferischer Betriebsratschef, Politiker auf allen Ebenen, Audianer für immer: Der Ingolstädter Ehrenbürger Fritz Böhm wäre heute 100 Jahre alt geworden

Die Geschichte in ihrem Lauf macht, was sie will. Sie lässt sich mal mehr, meistens weniger von so genannten historischen Gestalten prägen (in der Regel Männer). Sie verfasst en masse dunkle Kapitel, kennt aber keine Schlussstriche (auch wenn viele das gerne so hätten) und sie bietet nette Analogien. Etwa diese: Am 4. Februar 1920 setzte die Deutsche Nationalversammlung in Berlin das erste Betriebsrätegesetz in Kraft. Es war der Beginn der Mitbestimmung der deutschen Arbeiter und Angestellten. Und am 22. Februar 1920 wurde in Jägerndorf (Sudetenland) Fritz Böhm geboren - ein Betriebsratschef von historischem Format. Das Mensch gewordene Betriebsverfassungsgesetz. Seinen Weggefährten galt er als Jahrhunderterscheinung. Manchen seiner Gegner auch.

2013 ist er gestorben. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden. Fritz Böhm hat oft und gern darauf hingewiesen, genauso so alt zu sein wie die Arbeitnehmervertretung in Deutschland. Für einen wie ihn war das vermutlich kein Zufall. Fritz Böhms Selbstbewusstsein musste man sich als etwas Furchteinflößendes vorstellen. Wer mit ihm die Klingen kreuzte, hatte später einiges zu erzählen. Er war der Schrecken des Volkswagen-Vorstands, verhinderte mit geballter Macht, dass Wolfsburg die Marke Audi verschwinden lässt. Böhm, ein schon zu Lebzeiten legendärer Betriebsratschef, der nie den Führerschein gemacht hat, der hartnäckig dafür kämpfte, dass in Ingolstadt Autos gebaut werden. Sein Lebensmotto lautete: "Eine blutige Nase nehme ich immer in Kauf!" Böhm, ein Sozialdemokrat wie aus dem Bilderbuch der Arbeiterbewegung, der sogar "einen Pakt mit dem Teufel" schloss, wie er einmal süffisant erzählte; er meinte damit den CSU-Chef und Bundesminister Franz Josef Strauß.

Der trug Ende der 1950er mit einer staatlichen Bürgschaft dazu bei, dass die Auto Union, die damals zu Daimler gehörte, in Ingolstadt Personenkraftwagen produziert und nicht in Nordrhein-Westfalen, wie es die Unternehmensführung vorhatte. Ein Produktwechsel tat not. Die Motorräder aus dem Ingolstädter Werk liefen nicht mehr gut; die Ära der Zweiräder als motorisiertes Alltagsfahrzeug ging zu Ende. Und der brotkastenförmige DKW-Miniaturlaster kam mit seinen zwei Takten auch nicht gerade wie ein immerwährender Standortgarant daher. Es wurde Zeit für Autos.

Böhm - wortgewaltig, offensiv, strategisch gewitzt - wusste die Belegschaft geschlossen und entschlossen hinter sich zu versammeln. Es formierte sich eine Auto Union im kämpferischen Sinne. Nach harten Verhandlungen lenkten die Daimler-Bosse ein. In Ingolstadt begann das Automobilzeitalter. An der Ettinger Straße entstanden ab 1958 die Hallen für die Fertigung des DKW Junior.

Böhm und Strauß hatten gesiegt. Ausgerechnet die beiden Widersacher. Was nimmt man nicht alles auf sich, wenn es unbedingt sein muss. Der Münchner Sturschädel tat es für Bayern, der böhmische Dickkopf für seine Kolleginnen und Kollegen am Standort Ingolstadt.

Den hatte Böhm 1950 in traurigem Zustand vorgefunden. Dass die schmucklos-arme, abgehängte Stadt mit ihren 41 000 Einwohnern und über 100 landwirtschaftlichen Kleinbetrieben, in der damals 689 Pkw und 1153 Krafträder gemeldet waren, zu einer Industriemetropole von Weltrang avancieren würde, stand lange Zeit wirklich nicht zu erwarten. Dieses kommunale Wirtschaftswunder verdankt sich Unternehmern, die mit Innovationslaune und Risikobereitschaft am Erfolg arbeiteten, Lokalpolitikern, die den Rahmen schufen - und Zehntausenden Beschäftigten, die voller Optimismus und Fleiß die Stadt zu Wohlstand führten. Der unerwartete Aufstieg Ingolstadts aus tiefer Tristesse ist mit vielen Namen verbunden, einer lautet: Böhm, Fritz.

Während seiner Kindheit in Armut griff das Feuer der Sozialdemokratie dank seines Vaters früh auf den kleinen Fritz über. Er schlug Saalschlachten gegen Nazi-Horden. Als junger Mann lernte er den Beruf des kaufmännischen Angestellten. 1940 musste Böhm in den Krieg. Grauenhaften Erlebnissen als Infanterist an der Ostfront folgten fünf Jahre Kampf ums Überleben als Zwangsarbeiter für die Russen. 1950 kam er frei. In seiner Heimat, dem Sudetenland, herrschten jetzt die Tschechoslowaken. Nach Ingolstadt verschlug es ihn als Trauzeuge eines Kameraden. Er blieb. Arbeit fand er in der Auto Union, die nach der Enteignung in der Ostzone und der Flucht führender Mitarbeiter in den Westen bescheiden in Ingolstadt von vorne anfangen musste. Für 77 Pfennige in der Stunde lieferte Böhm Rahmenrohre in die Fertigung. "Auf dem Rücken", erzählte er Jahrzehnte später. "So was von primitiv!"

Er kämpfte dafür, die Arbeitsverhältnisse zu verbessern, legte sich mit der Unternehmensleitung an. Unbeugsam. 1951 wurde Böhm Betriebsratschef im Ingolstädter Werk; er blieb es bis 1985. Im legendären, hässlichen Metallerstreik 1954 - ein revolutionäres Erlebnis für beide Seiten - stand Böhm an der Front. Ein Schlüsselereignis in der formativen Phase der Bundesrepublik. Die Arbeitgeber, erzählte Böhm in einem DK-Gespräch im Jahr 2010, "mussten damals einsehen, dass ohne die Gewerkschaften nichts geht".

Von 1972 bis 1987 war er Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Audi. Von 1961 bis 1988 gehörte er den Aufsichtsräten von Daimler Benz und dann von VW an. An Böhms 90. Geburtstag flogen die Volkswagenfürsten Ferdinand Piëch und Martin Winterkorn aus Wolfsburg ein, um ihn bei Audi hochleben zu lassen. Nachdem Fritz Böhm am 10. Januar 2013 gestorben war, schrieb der Audi-Vorstand in einer Todesanzeige, die eine halbe Zeitungsseite füllte: "Sein Weitblick sicherte die Eigenständigkeit der Marke Audi." Man kann sagen: Audi verdankt Fritz Böhm so einiges. Unter anderem die Existenz.

Bei der Aufholjagd in die Premiumklasse preschte er mit. Als Entwicklungschef Piëch in den 1970er-Jahren - in Werk und Konzern hochumstritten - eine technologische Innovationsrallye startete, um den Ruf loszuwerden, Audi baue nur Spießerschleudern, hielt Böhm dem schwierigen Österreicher in der Belegschaft den Rücken frei. Denn er fand den Wandel gut. "Endlich weg vom Hosenträger-Image!", nannte er das.

Piëch bedankte sich auf seine Weise: Bei der Feier von Böhms 70. Geburtstag nannte der Audi-Chef den ehemaligen Betriebsratsrecken "eine große Unternehmerpersönlichkeit" - das war nicht ironisch gemeint. Böhm hat stets weit nach vorne gedacht. "Man muss sich vor jeder Entscheidung fragen: Was ist in zehn Jahren?", erzählte er kurz vor seinem 90. Geburtstag. So hielt er es sein Leben lang.

Hätte die Audi-Führung in der jüngeren Vergangenheit ein wenig mehr Weitsicht im Stil eines Fritz Böhm walten lassen, wer weiß, vielleicht müsste das Unternehmen heute nicht hektisch Milliarden Euro in die Entwicklung von Technologien stecken, über die mächtige Audianer vor zehn Jahren noch Witze gerissen haben.

Die Welt der Fließbänder war ihm nicht genug. Böhm zog zugleich durch die Institutionen: als Politiker. Auf drei Ebenen. Er war eine halbe Ewigkeit Mitglied des Ingolstädter Stadtrats (von 1952 bis 1958 und von 1978 bis 2000). Von 1958 bis 1965 gehörte er dem Bayerischen Landtag an, von 1965 bis 1972 dem Deutschen Bundestag. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) nannte Böhm gar einen Freund. Die zwei waren offenbar - wie Männer ihrer Generation zu sagen pflegten - aus demselben Holz geschnitzt: Mit dem bissig-besserwissenden Oberleutnant der Wehrmacht a.D. aus Hamburg riskierte man ohne Not besser keinen Streit. Und wer sich mit Böhm anlegte, musste ebenfalls wissen, was er tut.

Das hat irgendwann auch die noch lebende Volkswagen-Legende Carl H. Hahn jun. (Jahrgang 1926) gelernt. Immer wieder verfolgte der Vorstandsvorsitzende den Plan, der attraktiven, da geldigen Konzerntochter in Ingolstadt möglichst viele Gewinne abzunehmen und Investitionen zu streichen. Es war auch Hahn, der die Ingolstädter Fabrik zum VW-Werk Nummer 7 degradieren wollte.

Aber nicht mit Fritz Böhm. Das Schneiderkind aus dem Sudetenland trat dem international ausgebildeten Sohn des einstigen Auto-Union-Generaldirektors Carl Hahn senior im Aufsichtsrat frontal entgegen, drohte mit Stillstand im Ingolstädter Werk. Es krachte heftig.

Der Nachhall dieser Konfrontationen ist in Hahn juniors Autobiografie "Meine Jahre mit Volkswagen" (2005) verewigt. Er schreibt: " In Ingolstadt stieß ich auf den Betriebsratsvorsitzenden aus der Zeit meines Vaters, den Sudetenländer Fritz Böhm, der für eine klare divisionale Unabhängigkeit im Konzern eintrat. Er besaß eine außergewöhnliche politische Autorität und intellektuelle Unabhängigkeit." Böhm, bekennt Hahn, war "für den Fortbestand von Audi von kaum zu überschätzendem Einfluss. Er kannte nur die Interessen von Audi." Dort werden das viele Fritz Böhm gewiss nie vergessen.

Von Christian Silvester