Pfaffenhofener Gericht spricht 78-Jährigen nach Anzeige wegen Vergewaltigung frei
„Wie ein Depp habe ich mich gefühlt“

18.01.2022 | Stand 18.01.2022, 12:49 Uhr
Gericht −Foto: Pexels

Von Albert Herchenbach

Wie deutlich muss eine Frau einem Mann zu verstehen geben, dass sie nicht umarmt, geküsst und im Intimbereich berührt werden möchte? Kann sie so viel Empathie voraussetzen, dass er intuitiv spürt, wenn sie die Zudringlichkeiten nur erduldet, aber eigentlich gar nicht will?

Ein eindeutig ausgesprochenes Nein ist nicht erforderlich, sagt die Staatsanwältin und beantragt, einen 78-Jährigen für drei Jahre in Haft zu nehmen, dem sie Vergewaltigung und vorsätzliche Körperverletzung vorwirft. Das Pfaffenhofener Schöffengericht kommt zu einer anderen Einschätzung: Es spricht den Angeklagten ohne Wenn und Aber frei.

Paul S. (alle Namen geändert), der Mann auf der Anklagebank, ist ein vitaler und eloquenter Senior aus dem mittleren Landkreis. Er versteht überhaupt nicht, warum er hier sitzt. All das, was ihm die Staatsanwältin vorhält, sei im gegenseitigen Einvernehmen geschehen - und das nicht erst an diesem Dienstagabend im vergangenen Juli. "Schon zehn Mal ist das so passiert", rechtfertigt er sich, "immer hat sie mitgemacht." 

An diesem Abend kurz nach 21 Uhr habe er sie angerufen, er hätte Kuchen gebacken und würde ihr gern ein Stück vorbeibringen. Bettina F., schon im Schafanzug, ließ ihn über die Terrassentür in ihre Wohnung. Dann kam es von seiner Seite aus zu unsittlichen Berührungen, woraufhin sich ihm die Frau entzog. "Ist gut jetzt, Paul", habe sie ihm gesagt. Der Senior: "So hat's immer aufgehört." Und dann habe er auch stets von ihr gelassen. "Kein einziges Mal hat sie gesagt, sie will das nicht." Das hätte er doch selbstverständlich akzeptiert. Sex hatten sie nie.

Diesmal aber habe sie ihn barsch aufgefordert zu gehen: "Schluss jetzt, ich will fernsehen." "Da war ich verärgert", gesteht der Angeklagte. "Wie ein Depp habe ich mich gefühlt." Umso mehr, als er am nächsten Tag eine Mitteilung von ihr im Briefkasten vorfand. Sie wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben, ließ sie ihn wissen. Drei Wochen später erschien bei ihm die Polizei und sprach ein Kontaktverbot aus. Inzwischen hatte Bettina F. ihn angezeigt, wenig später aber versucht, die Anzeige wieder zurückzuziehen. Freunde hatten zu bedenken gegeben, dass da ein sehr belastender Prozess auf sie zukommen könnte. Aber das Verfahren war bereits angelaufen.

Bettina F. ist als Zeugin geladen. Die Aussage fällt ihr sichtlich schwer, wiederholt schlägt sie die Hände vors Gesicht. Amtsrichterin Katharina Laudien hält ihr die Aussage des Angeklagten vor, dass alles einvernehmlich geschehen ist. Die 60-Jährige schüttelt sich heftig: "Nein! Geduldet heißt doch nicht gewollt." Sie ist nicht der resolute Typ, der unmissverständlich Grenzen aufzeigt; das gesteht sie vor dem Schöffengericht auch freimütig ein. Ein klares Nein hatte Paul S. von ihr nicht zu erwarten, es kam eher versteckt, quasi durch die Blume. So hatte er sie einmal in seine Sauna eingeladen. Aber anstatt ihm zu sagen, sie möchte nicht mit ihm nackt in die Kabine, erklärte sie ihm, sie vertrage die Hitze nicht. Bettina F.: "Eigentlich müsste er das doch merken, dass ich das nicht will."

Warum sie Paul S. nicht klipp und klar die Grenzen aufgezeigt hat, erklärt die 60-Jährige so: Sie wollte das gute Nachbarschaftsverhältnis nicht aufs Spiel setzen, das sich über die Jahre entwickelt hatte. Immerhin war ihr Paul S. gern zu Diensten. Er mähte ihren Rasen, erledigte Besorgungen und fuhr sie zu Arztterminen. Bettina F. wollte sich erkenntlich zeigen, aber Geld habe ihr Nachbar abgelehnt. Sie dankte es ihm mit Nähe, die der 78-Jährige offensichtlich völlig missverstand. 

Mit ihrem Brief in der Hand habe Paul S. an ihrer Terrassentür geklopft und gesagt: "Du hat es doch geduldet." Nein, habe sie erwidert, "ich habe es erduldet, und das ist ein Nein". Die 60-Jährige schlägt mit der Hand auf den Tisch: "Am schlimmsten ist es, dass er so wenig Achtung hat." "Aber sie haben ihn doch umarmt", hakt die Richterin nach. "Menschen, die ich mag, umarme ich", antwortet die Zeugin. Sie erwarte vom Gericht keine Strafe für ihren Nachbarn, "ich will nur, dass er es kapiert". 

Aber wie sollte er, fragt sich auch der Verteidiger André Schneeweiß, der der Zeugin vorhält, gerade mal einen Monat vor jenem Juliabend ihren Nachbarn zu einem Glas Sekt eingeladen zu haben, Umarmung und Mundkuss inklusive, um sich dafür zu bedanken, dass er sie bei einem Autokauf unterstützt hatte. 

Die Staatsanwältin sieht durch die Beweisaufnahme die Anklage bestätigt. Dass sich Bettina F. nach den Berührungen im Intimbereich jedes Mal weggeduckt habe, sei ein eindeutiges Signal für ein Nein. Der Verteidiger hält dagegen. Bettina F. habe seinem Mandanten nicht nur keine Grenzen aufgezeigt, sondern ihm zu verstehen gegeben, es noch mal zu versuchen. "Wie soll der Angeklagte wissen, sie will nichts von mir?"

So sieht das auch das Schöffengericht. Bettina F. habe, wie sie selbst zugegeben hat, ein Problem, eindeutig Nein zu sagen. "Aber das kann nicht zu Ihren Lasten gehen", erklärt sie dem Angeklagten.