Die Reaktivierung von Bahntrassen könnte viele Probleme lösen – Derzeit aber hakt das Vorhaben
Warten auf die alten Strecken

28.09.2022 | Stand 28.09.2022, 7:36 Uhr
−Foto: Stratenschulte, dpa

Von Matthias Arnold

Seit der Bahnreform im Jahr 1994 ist das Schienennetz in Deutschland um rund 15 Prozent geschrumpft. Insbesondere in ländlichen Regionen verloren in den vergangenen 20 bis 30 Jahren viele Menschen den Zugang zum Bahnverkehr – auch in Bayern. Seit Jahren fordern Verbände, einst stillgelegte Strecken wieder in Betrieb zu nehmen. Laut dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) könnten so Tausende Gleiskilometer zurückgewonnen werden. Doch wie immer braucht es jemanden, der das bezahlt.

Aus Sicht der Branchenverbände kann die Reaktivierung alter Strecken zahlreiche Probleme lösen: Zum einen könnten auf diese Weise vor allem ländliche Regionen, die früher mal einen Gleisanschluss hatten, wieder ans Schienennetz angebunden werden. Das hilft dabei, dass mehr Menschen in den Zug anstatt ins Auto steigen und damit dem Klima – ein ausdrückliches Ziel der Bundesregierung. Der VDV geht davon aus, dass allein durch die Wiederanbindung Dutzender sogenannter Mittelzentren gut 1,3 Millionen Menschen wieder einen Zugang zur deutschen Bahninfrastruktur zurückbekämen.

Weiter würde das Angebot im Zugverkehr dem Interessensverband Allianz pro Schiene zufolge durch Reaktivierungen auch in der Breite besser. Mit dem geplanten Deutschlandtakt will der Bund Fern- und Regionalverkehr künftig besser aufeinander abstimmen. Je besser die Infrastruktur auch in der Fläche ist, umso einfacher ist dieses Ziel zu erreichen. Nicht zuletzt setzt die Allianz pro Schiene auch darauf, dass durch Reaktivierungen zahlreiche Güterverkehrsanschlüsse bei Unternehmen hinzukommen könnten und so der Schienengüterverkehr gestärkt würde.

Seit 1994 wurden der Allianz pro Schiene zufolge hierzulande insgesamt rund 1300 Kilometer Gleise reaktiviert – sowohl Güter- als auch Personenverkehrsstrecken. Allein seit 2019 sind demnach insgesamt knapp 145 Kilometer hinzugekommen. Doch das Tempo ist derzeit niedrig. Seit der Bundestagswahl im vergangenen Jahr sei bislang „kein einziger Kilometer Schienenstrecke in Deutschland“ reaktiviert worden, so Dirk Flege, Geschäftsführer bei Allianz pro Schiene.

Der VDV prüft regelmäßig, bei welchen Strecken sich eine Ertüchtigung lohnen würde. In der aktuellen Untersuchung identifizieren die Fachleute gut 280 Strecken mit einer Gesamtlänge von knapp 4600 Kilometern. Damit erhielten bundesweit mehr als 330 Städte und Gemeinden einen Gleiszugang, sagt Martin Henke, Geschäftsführer für den Bereich Eisenbahn beim Verband VDV. „Damit würden 3,4 Millionen Einwohner neu angeschlossen.“

Länder und Kommunen haben laut Flege in diesem Jahr zunächst auf eine neue rechtliche Grundlage für die Kosten-Nutzen-Rechnung für die Wiederertüchtigung alter Schienenwege gewartet, die im Juli in Kraft getreten ist. Flege geht davon aus, dass zum Fahrplanwechsel im Dezember in diesem Jahr nun noch einige Strecken reaktiviert werden. „Wir rechnen aber auch im Dezember nur mit einer einstelligen Kilometerzahl von reaktivierten Strecken“, sagt er.

Doch vor allem der Streit ums Geld bremst das Thema aus. Baumaßnahmen für Reaktivierungen fördert der Bund über das sogenannte Gemeindeverkehrs-Finanzierungsgesetz. Diese Mittel wurden zuletzt zwar deutlich aufgestockt. Doch sie beziehen sich laut VDV-Experte Henke nur auf Reaktivierungen, die den Personenverkehr betreffen. Für mögliche Güterverkehrsstrecken gibt es demnach also keinen eigenen Topf.
Den Betrieb auf den wiederbelebten Strecken müssen die Länder und Kommunen wiederum unter anderem mit den sogenannten Regionalisierungsmitteln bezahlen, die ebenfalls vom Bund kommen und über deren künftige Höhe derzeit zwischen Regierung und Bundesländern gerungen wird. Auch deshalb halten sich Länder und Kommunen aus Sicht der Verbände derzeit zurück.

Alle Abschnitte wiederzubeleben wäre nicht günstig. Um sämtliche vom Verband VDV identifizierten Strecken in Deutschland zu reaktivieren, bräuchte es laut Henke je nach Qualitätsanspruch insgesamt zwischen neun bis zwölf Milliarden Euro. (dpa)