Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
Rechtsanwalt fordert Corona-Bußgeld seines Sohnes in Ingolstadt zurück - und blitzt bei Stadt ab

23.01.2023 | Stand 17.09.2023, 4:49 Uhr

Ausgangssperre an Silvester 2020 – fotografisch in Szene gesetzt von unserem Redakteur Johannes Hauser. Die Aufnahme wurde das „Pressefoto des Jahres“ in der Kategorie „Tagesaktualität“. Diese Zeit beinhaltet das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht. Wer sich hier ein Bußgeld eingehandelt hat, müsste erneut klagen. Foto: Hauser (Archiv)

Die erste, strenge Ausgangssperre in Bayern zu Beginn der Corona-Pandemie war nicht rechtmäßig. So hat das Bundesverwaltungsgericht im November vergangenen Jahres in zweiter Instanz entschieden. Ein Ingolstädter Rechtsanwalt hat nun ein bereits gezahlte Bußgeld zurückgefordert und ist bei der Stadt mit seiner Forderung abgeblitzt.



Auch in Ingolstadt wurden im Zuge verschiedener Ausgangsbeschränkungen in der gesamten Corona-Zeit rund 900 Verstöße gegen Ausgangssperren bearbeitet. In zwei Drittel der Fälle wurden Bußgelder verhängt – in einer Gesamthöhe von rund 100.000 Euro, wie Stadtsprecher Michael Klarner auf Anfrage unserer Zeitung sagte.

Doch was, wenn ein Betroffener das bereits bezahlte Bußgeld jetzt zurückfordert? Ein Ingolstädter Rechtsanwalt hat genau dies getan. Und ist mit seiner Forderung bei der Stadt abgeblitzt. Weil der Tag des Vergehens seines Sohnes neun Tage nach dem Zeitraum war, über den das Gericht geurteilt hat. Jetzt wird der Ingolstädter wohl gegen die Ablehnung klagen.

Es geht um 150 Euro Bußgeld, die der Anwalt für Wirtschaftsrecht für seinen Sohn bezahlt hatte. Der damals 15-Jährige hatte am Dienstag, 28. April 2020, kurz nach 18 Uhr „vorsätzlich“ die eigene Wohnung „ohne triftige Gründe verlassen“, wie es im Bußgeldbescheid des Ingolstädter Ordnungsamts heißt. Um sich auf dem Zucheringer Spielplatz mit sieben Freunden zu treffen, was streng verboten war. Um die weitere Ausbreitung der Pandemie zu verhindern, waren Sozialkontakte auf die eigene Hausgemeinschaft oder höchstens einen weiteren Haushalt beschränkt. Gruppenbildung war damals tabu. Während der ersten Corona-Ausgangssperre in Bayern, über die das Gericht geurteilt hat, wäre selbst das Lesen eines Buches auf der Parkbank ein Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz gewesen.

Der Vater des Buben betont im Gespräch mit unserer Zeitung, er sei keinesfalls Corona-Leugner. Die damaligen Maßnahmen habe er akzeptiert. Auch das Gespräch mit der Polizei, die ihn über den Verstoß des Sohnes informiert hatte, sei freundlich verlaufen. „Erschrecken Sie nicht, hier ist die Polizei“, habe sich der Beamte am Telefon gemeldet. Dass sein Sohn die Strafe bekommen hat, will er nicht zum Thema machen.

Gefühlt wie auf dem Schulhof

Wohl aber die barsche Reaktion der Stadt auf seine Forderung nach Rückzahlung. „Das werde ich nicht auf mir sitzen lassen.“ Er habe versucht, in der Angelegenheit mit OB Christian Scharpf (SPD) zu sprechen. „Aber an den kommt man nicht ran.“ Im Ordnungsamt sei er genau so abgeblitzt wie bei Bürgermeisterin Dorothea Deneke-Stoll (CSU). „Ich habe mich gefühlt wie auf dem Schulhof“, sagt der 58-Jährige mit 30-jähriger Berufserfahrung als Anwalt. Die Ablehnung der Rückzahlung akzeptiert er nicht. „Die zwingen mich, einen zweiinstanzlichen Rechtsstreit durchzuziehen.“ Das koste Zeit und Geld. Und die Gerichte seien bekanntermaßen genug belastet.

Für die Stadt bestehe „derzeit keine Möglichkeit, der von Ihnen geforderten Rückerstattung nachzukommen“, steht in dem Schreiben des Ordnungsamts, das der Redaktion vorliegt. Denn die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts habe lediglich über Verstöße gegen die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 „in der Änderungsverordnung vom 31. März 2020“ geurteilt und diese als unverhältnismäßig angesehen. Besagte Verordnung galt von 27. März bis 19. April 2020. Die Ordnungswidrigkeit des 15-Jährigen war am 28. April 2020. Dieses Verfahren beziehe sich auf eine spätere Ausgangssperre. „Diese ist von der aktuellen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht betroffen.“ Ob und wann über die Rechtmäßigkeit dieser Ausgangssperre entschieden werde, sei nicht bekannt.

Zum Einzelfall selbst äußerte sich die Stadt auf DK-Anfrage aus Datenschutzgründen nicht. Grundsätzlich meinte Stadtsprecher Michael Klarner: „Statt örtlicher Einzelfallentscheidungen ist ein abgestimmtes, bayernweit einheitliches Vorgehen aller Kreisverwaltungsbehörden erforderlich.“ Die Bayerische Staatsregierung habe angekündigt, das Urteil sowie die Urteilsgründe zu analysieren und die erforderlichen Konsequenzen daraus zu ziehen. Dies betreffe auch die Frage nach dem Umgang mit Bußgeldbescheiden. Das Gericht habe bei der Urteilsverkündung angekündigt, dass die Urteilsgründe erst 2023 zugestellt werden. Ob diese der Regierung inzwischen vorliegen, sei nicht bekannt. Auch müsse festgelegt werden, wie mit Bußgeldfällen umzugehen sei, die sich nach dem 19. April 2020 ereignet haben – und damit nicht die vom Gericht für unwirksam erklärte Verordnung betreffen.

Anträge auf Rückzahlung werden zurückgestellt

Der Bayerische Städtetag hat bereits Anfang Dezember darauf hingewiesen, dass die örtlichen Kreisverwaltungsbehörden zeitnah eine grundlegende Handlungsempfehlung des Freistaats benötigen, um eine einheitliche Vollzugslösung sicherzustellen. „Da diese Hinweise bislang noch nicht vorliegen, müssen Anträge und Anfragen auf Rückerstattung bis zur Klärung einstweilen zurückgestellt werden.“

Nach dem Urteil hat es in Ingolstadt mehrere Forderungen nach Rückzahlung des Bußgeldes gegeben. Größtenteils hätten sich diese aber, wie im Fall des Ingolstädter Anwalts, auf andere Ausgangssperren aus dem Herbst 2020 und dem Jahr 2021 bezogen. „Berechtigte Anfragen“, wie Klarner die Forderungen aus dem abgeurteilten Zeitraum nennt, habe es bisher erst zwei gegeben. Die Adressaten seien mit einer Zurückstellung bis zur finalen Klärung einverstanden gewesen.

KOMMENTAR



Schon lange vor Corona waren Deutschlands Gerichte am Limit. Laut Deutschem Richterbund gehen bis 2030 bundesweit etwa 40 Prozent der Richter und Staatsanwälte in Ruhestand. Auf weniger Richter kommen mehr Klagen. Kein Wunder, dass sich viele Verfahren schon jetzt hinziehen wie Kaugummi.

Immer öfter haben es unsere Gerichte mit Klagewellen zu tun. Beispiel Dieselbetrug. Und dann die vielen Verfahren in Sachen Corona-Pandemie und den damit verbundenen Regeln.

Wenn dazu ein Bundesverwaltungsgericht ein Urteil fällt, könnte man meinen, es gilt. Die Kommunen müssten von der Regierung unterstützt werden, was die zu erwartenden Rückzahlungen betrifft. Stattdessen werden sie alleingelassen, mauern und lehnen ab, sobald sich ein Schlupfloch findet. Was eine weitere, unnötige Klagewelle befürchten lässt.

Ruth Stückle