Mordprozess Ettinger Straße: Einblicke in geschlossenen Kosmos

26.02.2021 | Stand 26.02.2021, 14:39 Uhr
Hinter Plexiglas: Der Angeklagte und sein Verteidiger Jörg Gragert (links) beim zweiten Verhandlungstag am Dienstag. Die Plastikkäfige sollen das Infektionsrisiko in Corona-Zeiten mildern. −Foto: Heimerl

"Ein Türke ist sensibel"

(ty) Der Mordprozess vorm Landgericht um den gewaltsamen Tod eines 50-jährigen Ingolstädters in einem Internetlokal an der Ettinger Straße (DK berichtete über den Auftakt) ist dazu angetan, auch tiefere Einblicke in die Gefühlswelt türkischer und kurdischer Mitbürger und in die Gerüchteküche zu bieten, die sich in ihrem mitunter wohl recht geschlossenen Kosmos seit der Bluttat vom vergangenen Juni zunehmend aufgeheizt hat.

Der dritte Verhandlungstag hat am Donnerstag zunächst eine lange Reihe von Anhörungen jener Polizisten gebracht, die am Tatabend mit der Festnahme des mutmaßlichen Todesschützen befasst oder bald darauf bei den ersten Gesprächen mit dem heute 38-jährigen Kurden zugegen waren. Durchweg wurde hier das Bild eines sehr gefassten und gegenüber den Beamten sehr kooperativen Mannes gezeichnet. In einem Verhörraum der Ingolstädter Polizeiinspektion hatte er sich demnach bei einem Polizisten mehrfach danach erkundigt, ob das Opfer denn auch tot sei.

Als man ihm das bestätigte, soll er das den Zeugenaussagen zufolge mit Genugtuung quittiert haben: "Er hat zufrieden gewirkt", sagte ein befragter Beamter. Für Verteidiger Jörg Gragert ist noch fraglich, ob die damals gemachten Aussagen seines Mandanten verwertbar sind, weil nicht eindeutig geklärt ist, ob dieser die bis dahin angeblich bereits zweimal erfolgte Rechtsbelehrung durch Schutzpolizisten auch wirklich verstanden hatte. Tatsache ist wohl, dass erst bei Übernahme des Falles durch den Spurensicherungsdienst der Kripo tief in der Nacht eine Dolmetscherin zugegen war und die Rechtslage dann auch auf Türkisch erörtert werden konnte.

Mit seiner Strategie, zumindest von der Mordanklage wegzukommen und die tödlichen Schüsse auf den Landsmann des Angeklagten womöglich als impulsive Spontantat mit Totschlagscharakter erklären zu können, hat es Rechtsanwalt Gragert aber zunehmend schwer. Schon direkt nach der Anklageverleseung war ihm der Angeklagte mit einer eigenen, offenbar nicht mit dem Verteidiger abgesprochenen Einlassung in die Parade gefahren.

Am Donnerstag preschte der 38-Jährige abermals vor und schilderte seinen angeblichen Kokain- und Alkoholkonsum (sieben bis acht Halbe im Laufe des Nachmittags) vor dem verhängnisvollen Abend. Der eine runde halbe Stunde nach den Schüssen bei ihm festgestellte Atemalkoholwert von 0,36 Promille stützt die Angaben zum Alkohol aber keineswegs.

Die Freundin des Kurden, eine 30-jährige Deutsche mit kasachischen Wurzeln, will nichts von möglichen Schulden und dem Waffenbesitz ihres Partners mitbekommen haben. Sie habe seine "türkische Kultur" mit vielen Alleingängen und wenigen Erklärungen zu seiner Tagesgestaltung akzeptiert: "Eine Frau mischt sich nicht ein. "

Nach einem dreimonatigen Gefängnisaufenthalt bis zum vorigen Mai hatte der jetzige Angeklagte wohl eher mehr als weniger auf Kosten der zweifachen Mutter gelebt. Von seinem Streit mit dem späteren Opfer will sie zwar erfahren, die ganze Sache aber nicht so schwer genommen haben.

Glaubt man den Worten eines weiteren Zeugen, so hätte sie das ernster nehmen sollen. "Ein Türke ist sensibel", sagte der türkischstämmige frühere Angestellte einer inzwischen geschlossenen Döner-Bude direkt neben dem Tatort an der Ettinger Straße. Dort waren der mutmaßliche Täter und das Opfer gleichermaßen oft gesehen worden, der Zeuge bezeichnete beide Männer als gute Freunde.

Dass der Angeklagte womöglich im Keller dieses Imbisses die bei den tödlichen Schüssen verwendete Pistole versteckt haben könnte, dass er vormals bereits einmal einen früheren Arbeitgeber mit einer Schusswaffe bedroht haben könnte und dass er vielleicht schon länger als Handlanger eines Schutzgelderpressers in der Region unterwegs gewesen sein könnte - davon wollte der frühere Dönerverkäufer allerdings nie etwas gehört haben.

Diese Verdächtigungen waren nach unseren Informationen in einem anonymen Brief aufgetaucht, der inzwischen bei der Ermittlungsbehörde eingegangen ist. Inwieweit diese Dinge, die womöglich nur Gerüchten entspringen, im weiteren Prozess noch eine Rolle spielen werden, muss sich zeigen. Weiterverhandelt wird am nächsten Dienstag, 2. März.