Eine chemische Zeitbombe

07.02.2018 | Stand 09.10.2019, 3:37 Uhr

Rattengift-Prozess: Ärzte schildern dramatische Kontamination des Wettstettener Ehepaares (ty) Brodifacoum - um diesen Wirkstoff, ein Rattengift der sogenannten zweiten Generation, drehte sich gestern alles im Mordversuchsprozess vor dem Ingolstädter Landgericht. Das im Herbst 2016 mit dieser Chemikalie kontaminierte Wettstettener Landwirtsehepaar hat nach den Aussagen von Medizinern in akuter

Rattengift-Prozess: Ärzte schildern dramatische Kontamination des Wettstettener Ehepaares

(ty) Brodifacoum - um diesen Wirkstoff, ein Rattengift der sogenannten zweiten Generation, drehte sich gestern alles im Mordversuchsprozess vor dem Ingolstädter Landgericht. Das im Herbst 2016 mit dieser Chemikalie kontaminierte Wettstettener Landwirtsehepaar hat nach den Aussagen von Medizinern in akuter Lebensgefahr geschwebt.

Es war der Tag der Ärzte. Am vierten Verhandlungstag hat sich das Schwurgericht im Wettstettener Rattengift-Fall mit den Erkenntnissen beschäftigt, die der Hausarzt der allem Anschein nach vergifteten Austragsbauern und Mediziner der Regensburger Uniklinik und des Eichstätter Krankenhauses seinerzeit bei Feststellung der Symptomatik und auch bei der langwierigen Behandlung der Eheleute gewonnen hatten. Der Zustand der älteren Herrschaften war demnach seinerzeit akut lebensbedrohlich. Sie hätten ohne schnelle Medikation jederzeit an inneren Blutungen sterben können.

Brodifacoum ist der Stoff, den sich der wegen dreifachen Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung angeklagte 53-jährige Landwirtssohn nach zwei Bestellungen übers Internet aus China hatte schicken lassen. Und Brodifacoum ist die Chemikalie, die auf Veranlassung der Regensburger Klinikärzte von einem Bremer Speziallabor im Blut der Altbauern nachgewiesen werden konnte - und zwar als einziger Vertreter einer größeren Wirkstoffgruppe, die alle bei Rattengiften Verwendung finden.

Das Mittel reduziert die Blutgerinnungsfähigkeit dramatisch. Der Gerinnungsfaktor, gemeinhin als Quickwert bekannt, war bei den beiden Rentnern gegen Null gegangen, wie gestern in mehreren Zeugenaussagen betont wurde. Da beide nicht mit Medikamenten behandelt worden waren, die ein solches Blutbild hätten erwarten lassen, war der Verdacht der Fachleute schnell in Richtung Rattengift gegangen.

Womöglich verdanken die Austragsbauern ihr Überleben allein ihrem Hausarzt, der angesichts eines nicht stillbaren Nasenblutens des Altbauern Mitte Dezember 2016 sogleich richtig kombiniert und den Mann in die HNO-Abteilung der Regensburger Uniklinik überwiesen hatte. Die Bäuerin hatte er anderntags wegen Blutungen der Mundschleimhaut und Blut im Urin gleich hinterhergeschickt. Der Wettstettener Kollege habe da "exzellent gehandelt", urteilte der Chef der Regensburger Intensivstation im Zeugenstuhl.

Der 59-jährige Wettstettener Allgemeinmediziner schilderte dem Gericht seinerseits die langwierige Behandlung der Eheleute, denen als Gegenmittel für eine Stabilisierung ihrer Blutgerinnungswerte unter anderem Vitamin K in hohen Dosierungen verabreicht worden war. Eine durchgreifende Besserung habe sich erst kürzlich, nach rund einem Jahr, eingestellt, so der Hausarzt. Weil die Quickwerte sich im Januar 2017 trotz begonnener Behandlung bei beiden Eheleuten wieder deutlich verschlechtert hatten, waren sie nochmals im Eichstätter Krankenhaus durchgecheckt worden. Die Ärzte gingen aber da nicht mehr von einer erneuten Vergiftung aus, sondern von einer noch nicht befriedigenden Wirkung der Gegenmittel.

Eine Chemikerin des seinerzeit eingeschalteten Bremer Labors erläuterte dem Gericht die fatale Langzeitwirkung von Brodifacoum: Mit einer Halbwertszeit von 20 bis 62 Tagen baut es sich so langsam im Körper ab, dass - unbehandelt - bei entsprechend hoher Aufnahmedosis über Monate hinweg schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen (oft eben mit Todesfolge) anzunehmen sind. Bei der Rattenbekämpfung ist das ja der beabsichtigte Effekt: Einmal damit kontaminiert, wird ein Tier den Wirkstoff zu Lebzeiten nicht mehr los. Dann tickt die Zeitbombe.

Von Bernd Heimerl