Arztfamilie aus Niederscheyern startet Petition, um Gesundheitssystem zu verbessern

Für Korbinian: Kampf gegen Blockade der Krankenkassen

24.11.2020 | Stand 24.11.2020, 8:34 Uhr
Korbinian kuschelt gerne mit seinen Eltern Thomas und Carmen - von deren zermürbendem Kampf mit den Kostenträgern ahnt er zum Glück nichts. −Foto: Zurek

Für Korbinian: Kampf gegen Blockade der Krankenkassen

(ty) Carmen und Thomas Lechleuthner aus Niederscheyern haben eine Petition gestartet und wollen so gegen die Blockadehaltung der Kostenträger bei Hilfsmitteln vorgehen, sagen sie. Als Eltern eines behinderten Sohnes wissen sie, wovon sie reden.

Niederscheyern - Die Pflege eines schwerbehinderten Kindes zehrt emotional wie körperlich ohnehin schon stark an den Kräften der Eltern. Viele haben zusätzlich aber auch noch einen weiteren Kampf auszutragen: jenen um die Übernahme von Kosten für Hilfsmittel oder Medikamente durch die zuständigen Krankenkassen. Carmen und Thomas Lechleuthner aus Niederscheyern wollen das nicht länger hinnehmen. Die beiden Mediziner haben eine offene Petition gestartet, um die Blockadehaltung bei den Kostenträgern zu durchbrechen.

"Viele Familien mit schwer kranken oder behinderten Kindern erleben belastende Auseinandersetzungen mit den Kostenträgern", weiß Carmen Lechleuthner aus zahlreichen Gesprächen am Kinderpalliativzentrum in Großhadern, wo sie als Ärztin tätig ist. "Mit abwegigen Argumenten werden Leistungen teils systematisch abgelehnt", schildert sie ihre Erfahrung. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK), der für Gutachten herangezogen werde, diene oft nur als Begründung der angestrebten Ablehnung, ist die Fachärztin für Anästhesie überzeugt. Besonders verärgert zeigt sie sich darüber, dass "fachärztliche Therapieentscheidungen ausgehebelt, dem Betroffenen vorenthalten oder unnötig verzögert werden".

Was diese Blockadehaltung bei jenen bewirkt, die ein behindertes Kind betreuen, lässt ein Besuch bei den Lechleuthners erahnen. Der kleine Korbinian sitzt bei seiner Mutter auf dem Schoß, ein warmes Lächeln umspielt die Augen des Dreijährigen. Ein friedliches Stillleben, dessen Lack indes bei genauerem Hinsehen Risse bekommt. Papa Thomas hält eine riesige Spritze in der Hand. "Damit geben wir ihm Nahrung, Flüssigkeit und Medikamente über eine PEG-Sonde", erklärt der Facharzt für Allgemeinmedizin mit einer alteingesessenen Praxis in Wolnzach. Seit Juni muss sein Sohn über diesen Magenzugang ernährt werden. Grund dafür ist der gestörte Schluckreflex. Korbinian läuft ständig Gefahr sich zu verschlucken.

Korbinians Blick wandert. Seinen Kopf kann er ohne die stützende Hand seiner Mama nicht halten. Warum das so ist, erklärt der Vater mit leiser Stimme. Seine Schilderung hält sich an medizinische Formulierungen: eine Schutzmauer aus nüchternen Fakten. "Korbinian wurde im Januar 2017 als Frühchen geboren, in der 29. Woche, mit 690 Gramm Geburtsgewicht", sagt er und fügt hinzu, was ihnen wenige Wochen später eröffnet wurde: beidseits im Gehirn Nekrosen - also totes Gewebe, was ausgeprägte motorische Defizite und eine neurogene Dysphagie zur Folge habe: Das ist die Unfähigkeit aus eigener Kraft zu stehen, zu sitzen, den Kopf zu halten und normal zu schlucken. "Hinzu kommt eine Epilepsie, die medikamentös nur bedingt in den Griff zu bekommen ist", zählt der Papa weiter auf. Im Klartext heißt das: mehrere fokale Anfälle pro Stunde, auch nachts.

"Ausreichend Schlaf ist für uns zu einem Wunschtraum geworden", klinkt sich die Ehefrau wieder ein. Nach dem ersten Schock der Diagnose und einem anfänglichen Wechselbad der Gefühle zwischen dem Nicht-Akzeptieren-Wollen, dem Hadern mit dem Schicksal und der Frage nach der Schuld, könnten sie und ihr Mann mittlerweile emotional mit der Situation leben, meint sie. Der akute Schmerz habe sich gelegt. Geblieben sei die ungebrochene Liebe zu einem Kind, das "trotz aller objektiv vorhandenen Defizite aus unserer subjektiven Sicht perfekt ist". Korbinian, der nur wenige Worte sprechen kann, gluckst zufrieden. Als habe er diesen wundervollen Satz ganz genau verstanden.

Auch die sieben, neun und 14 Jahre alten Geschwister haben ihren behinderten Bruder "herzlich aufgenommen und gehen liebevoll mit ihm um", berichtet die Mutter, die darunter leidet, dass "die Drei einfach immer hintanstehen müssen, auch wenn wir uns alle Mühe geben, ihren Bedürfnissen ebenfalls gerecht zu werden".

Der Alltag, den die sechsköpfige Familie stets "um das kranke Kind herum basteln" muss, war und ist immer noch extrem belastend. Jeder Einkauf, jeder Ausflug ist eine Herausforderung. Die Tage sind eng getaktet zwischen Übungen, Ergo-, Logo- und Physiotherapie. Regelmäßig stehen Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte an. Eine immerwährende Überforderung, die sich in den Gesichtern der Eltern spiegelt. Und die, wie Thomas Lechleuthner gesteht, sie beide immer wieder "traurig, verzweifelt und extrem erschöpft" zurücklässt.

Da ist es umso bitterer, dass die Familie vom ständigen Kampf mit den Kostenträgern zermürbt wird, dass sie berechtigte Ansprüche für ihr behindertes Kind oft nur mit Hilfe von Rechtsanwälten durchsetzen kann. "Am widersinnigsten ist für uns die Tatsache, dass Verordnungen ausgewiesener Fachleute infrage gestellt werden", sagt Thomas Lechleuthner. Womit er zum Beispiel die über eine Sonde zu verabreichenden Medikamente meint, die Korbinian braucht, weil er Tabletten nicht schlucken kann. Die Kostenübernahme wurde zunächst verweigert, aber dann - nach Widerspruch jedoch nur zeitlich begrenzt - genehmigt. "Das heißt: Bald geht für uns der Kampf erneut los", ergänzt er.

Kürzlich war Korbinian sechs Wochen in einer Spezialklinik in Vogtareuth. Die von den Ärzten verordneten Hilfsmittel wurden von der Krankenkasse allesamt infrage gestellt. Wütend macht Lechleuthner, dass sich die Kassen bei einer Ablehnung oft auf Gutachten des MDK stützen. "Die teils von völlig fachfremden Medizinern ohne Untersuchung des Kindes rein nach Aktenlage verfasst werden", sagt er. Nur so lässt sich aus Sicht des 53-Jährigen erklären, dass ein solches Gutachten zu dem Schluss kommt, Korbinian sei "zu gut beieinander", als dass er für den Besuch des Kindergartens die beantragte Begleitung durch eine Fachkraft brauche - trotz Pflegegrad 5 und 100 Prozent Behinderung.

Auch ein von Experten verordneter Taster zur Anregung der Motorik, der es Korbinian ermöglicht hätte, Licht und Musik selber einzuschalten und ihm so "ein Erlebnis von Selbstbestimmtheit vermittelt hätte, das er sonst nie hat", sei nicht genehmigt worden. Was die Mutter traurig macht, "weil es zur Förderung der neurologischen Entwicklung eines Kindes bestimmte Zeitfenster gibt, die sich irgendwann schließen." Absurd wird es für die 43-Jährige, wenn ein teurer Therapiestuhl für den Kindergarten genehmigt wird, nicht aber die geeigneten Räder. Seit September liege Korbinian deshalb im Kindergarten auf dem Boden.

Mit ihrer Petition hoffen die Lechleuthners, Veränderungen anstoßen zu können. Damit keinem Behinderten mehr Medikamente, Hilfsmittel, Behandlungen und Untersuchungen - im Fall Korbinians ein Gentest, der für den Therapieansatz wichtig wäre - "ohne fachliche Substanz verweigert werden".